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„Anbaitjuda“ – „Zeit der frechen Kinder“ nennen die Anbarra in Australien jene Entwicklungsphase, die wir unter dem Namen „Trotzalter“ kennen. Der Weg zum eigenen Ich ist für Kinder überall auf der Welt mit Konflikten und Frustrationen verbunden. Doch wie Erwachsene damit umgehen, unterscheidet sich von Kultur zu Kultur.

In der Art und Weise, mit der die verschiedenen Völker ihre Kinder auf dem Weg in die Autonomie begleiten, spiegelt sich ihre Interpretation der kindlichen Natur wieder. Werden Kinder als grundsätzlich soziale, kompetente Wesen gesehen, läuft die Phase zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr eher entspannt ab. Wutanfälle sind bei den Khoisan in der Kalahari Zentralafrikas nichts, was besonderer Aufmerksamkeit bedarf. Sie gehören zum Kindsein und werden mit einem Schulterzucken oder Lachen quittiert. Eine Reaktion, die bei vielen Völkern verbreitet ist – auch in Guatemala oder bei den Navaho-Indianern Nordamerikas ist sie in dieser Form zu finden. In Neuguinea hingegen versucht man, kindlichen Unmut mit Naschereien und anderen Zuwendungen abzuwenden. Nicht selten läuft dort das ganze Dorf zusammen, um ein schreiendes Kind zu beruhigen. Denn nach dem Volksglauben verlässt die Seele ein weinendes, unglückliches Kind, was Krankheit und sogar den Tod nach sich ziehen kann. Im indischen Rajput gilt Nachgeben als wirksamstes Mittel, Kinder in dieser schwierigen Zeit zu besänftigen – ohne, dass jemand sich Sorgen macht, sein Kind zu verziehen.

Andere Kulturen zeichnen ein negativeres Bild: Kinder sind von Geburt an eigensinnig und egoistisch. Eine harte, kompromisslose Erziehung ist notwendig, um sie zu wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen. So kümmert man sich auf der Insel Tonga im Südpazifik wenig um kindliche Gefühle. Kinder werden zwar als Bereicherung gesehen, gelten aber als von Natur aus faul und anstrengend. Gehorsam ist die wichtigste Eigenschaft eines Kindes und wird notfalls auch mit körperlicher Gewalt durchgesetzt. In vielen Gegenden Ruandas darf die Autorität vor allem des Vaters auf keinen Fall in Frage gestellt werden. Dort schlägt man Kinder zwar selten, aber vor allem dann, wenn sie Grenzen austesten. Auch bei den Navaho, die grundsätzlich einen entspannten Umgang mit ihren Kindern pflegen, gibt es ein drastisches Mittel zum Unterbrechen von Wutausbrüchen: Besonders hartnäckige Anfälle werden durch einen Guss kaltes Wasser ins Gesicht beendet.

Vorsicht, Unwetter!
Wie bei so vielen Arten menschlichen Verhaltens tendieren wir auch in der Erziehung dazu, eher unseren Traditionen und kulturellen Werten zu folgen, als den tatsächlichen Bedürfnissen unserer Kinder. So bestimmen vielerorts kulturell gewachsene Vor-stellungen über Ursache und Auslöser, wie Erwachsene mit Wutanfällen umgehen. Die Hopi-Indianer im Westen der USA glauben, Zornausbrüche seien durch Hunger oder schwüles Wetter bedingt. Neigt ein Kind zu häufigen Anfällen, steht möglicher-weise die Mutter zu sehr unter Stress. In Okinawa gilt die Ankunft eines Geschwisterchens als Ur-sache dafür, wenn der Nachwuchs schwierig wird.
Und nicht zuletzt die Lebens-umstände bestimmen, wie Kinder durch die Trotzphase kommen. In vielen Kulturen der Erde sind nicht Erwachsene, sondern andere Kin-der für die Sozialisation der Kleinen zuständig. Bei den Hadza, einem Jäger-und-Sammler-Volk in Tansa-nia, bleiben Kinder ab einem Alter von etwa zwei Jahren im Dorf zurück, wenn ihre Eltern auf Nahrungssuche gehen. Und auch bei den Mbuti-Pygmäen in den Ituri-Wäldern Zentralafrikas verbringen Kinder ab diesem Alter ihre Zeit hauptsächlich in der Gesellschaft von anderen Kindern. Von den älteren Spielkameraden lernen sie nicht nur ihre Aufgaben und Pflichten, sondern auch den Umgang mit Konflikten. Im Fall der Mbuti bedeutet das: Ärger und Aggressionen geht man am besten aus dem Weg. Ist das nicht möglich, lacht man darüber. Kinder miteinander aufwachsen zu lassen, scheint ein guter Weg zu sein, um „Trotz“, wie wir ihn kennen, zu vermeiden. Denn der tritt vor allem dann auf, wenn Kinder auf engem Raum mit wenigen, gestressten Erwachsenen zusammenleben.

Erziehung als Privatsache
Unser heutiges westliches Verständnis zeichnet sich vor allem durch den fehlenden Konsens über die Natur von Kindern aus. Selbstkontrolle und Selbstregulation sind zu führenden Erziehungszielen geworden. Aggressionen, Wut und Frustrationen passen nicht ins Bild des selbstbeherrschten, genügsamen Kindes, das als Ideal durch die Köpfe vieler Eltern spukt. Dabei ist „Verziehen“ eine verhältnismässig neue Erfindung in der Geschichte der Kindererziehung. Im Mittelalter war Erziehung, notgedrungen, kein vorrangiges Thema – man hatte andere, elementarere Probleme. Kinder, die besonders viel schrieen oder wüteten, galten als von Dämonen oder bösen Geistern besessen und wurden im Zweifelsfall von einem Priester „geheilt“. Im Laufe des 19. Jahrhunderts verschob sich der Fokus – und damit die Schuldfrage – mit auf die Eltern. Mit der Industrialisierung fanden sich viele Familien alleine, ohne stützendes Netzwerk von Verwandten wieder. Kinder wuchsen nicht mehr in der Grossfamilie auf, wo sich Konflikte auf verschiedene Bezugspersonen verteilen konnten. Erziehung wurde Privatsache und die elterliche Macht unantastbar.

Trotzköpfe, furchtbare Zweijährige und gute Jäger
Der deutsche Begriff „Trotz“ spiegelt genau das wider. Er impliziert Ungehorsam, Auflehnen gegen eine Autorität und verrät, wie oft die Eltern-Kind-Beziehung auch heute noch als ständiger Machtkampf gesehen wird. Auch die angloamerikanischen „furchtbaren Zweijährigen“ („terrible twos“) tragen schon rein sprachlich die alleinige Verantwortung für ihr Benehmen. „Autonomiephase“, oder „Selbständigkeitsalter”, wie Jesper Juul es nennt, wäre ein passenderer Begriff für diese wichtige Zeit der Ich-Entwicklung. Auch für die im australischen Busch lebenden Anbarra ist es keine Abwertung, wenn sie ihre Kinder als „frech“ bezeichnen. Dieser Lebensabschnitt wird als normaler Teil des Heranwachsens gesehen. Und die Sioux-Indianer Nordamerikas freuen sich sogar über Kinder, die eine turbulente Trotzphase durchmachen. Aus ihnen werden, so sagt man, später besonders geschickte Jäger.

Nicole Ritsch

Quellen:
Renée Holler: Kleines Baby, grosses Glück.
Christine E. Gottschalk-Batschkus, Judith Schuler (Hrsg.): Ethnomedizinische Perspektiven zur frühen Kindheit.
Meredith F. Small: Kids – How Biology and Culture shape the way we raise young children
Aletha J. Solter: Tears and Tantrums